23.10.2015
Menschen, die den Tod auf sich nehmen
Migranten, Gastarbeiter, Zuwanderer, Flüchtlinge – dahinter steht immer ein Mensch
Mustafa Cakmakoglu, Integrationsbeauftragter des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf, ist promovierter Jurist und kam ursprünglich als Lehrer für die Kinder türkischer Arbeiter nach Berlin. Das war 1976. Was ist er also? Ein türkischer Einwanderer? Ein Deutscher mit türkischem Migrationshintergrund? »Diese Begriffe sind alle nicht ideal«, meint er. »Migranten, Flüchtlinge, Ausländer – das sind alles Worte, die den Menschen dahinter verdecken. Einen Menschen mit Gefühlen und einer Vergangenheit, der unter Umständen den Tod auf sich genommen hat, um hierher zu kommen, weil er auf eine gute Zukunft hofft. Wir müssen uns einander in erster Linie als Menschen wahrnehmen! Und uns für eine gemeinsame gute Zukunft einsetzen.«
Herr Cakmakoglu weiß, wovon er spricht. Seit er 1990 aus 13 Bewerbern zum Geschäftsführer des Ausländerbeirats Tiergarten ausgewählt wurde, setzt er sich für die Zusammenführung von Menschen und Kulturen ein. »Deutschland braucht jährlich zwischen 300 000 und 400 000 neue Menschen, um auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig zu bleiben«, erklärt er. »Unsere Bevölkerungszahl wächst nicht, egal wie viele familienfördernde Anreize sich die Gesetzgeber ausdenken. Die deutsche Alterspyramide steht auf dem Kopf, und nur durch die Zuwandererfamilien ist unsere Altersversorgung gesichert. Zuwanderung ist lebenswichtig für Deutschland!« Eine Tatsache, die nicht unbedingt dem Empfinden aller Deutschen entspricht.
»Im Gegensatz zu vielen anderen Städten ist Berlin eine zivilisierte, tolerante Stadt. Zuwanderer hat es hier seit Jahrhunderten gegeben. Trotzdem ist in einigen Köpfen die Diskriminierung fest verankert. Wenn Menschen zum Beispiel aus dem Libanon, aus Palästina, Ägypten, Tunesien oder der Türkei stammen, kommen sie beruflich nicht so voran wie ein Deutscher. Das muss sich ändern. Rassismus ist weit verbreitet, auch ich habe oft damit zu kämpfen. Und leider finden sogar hier Übergriffe statt – rechtsextreme Angriffe, Brandanschläge. Das ist sehr traurig.«
Was könnte dagegen unternommen werden? Herrn Cakmakoglu mangelt es nicht an konstruktiven Ideen. »Ganz konkret wünsche ich mir die Gründung von Organisationen ähnlich den Abmahnvereinen beim Verbraucherschutz. Diese sind nämlich laut ihrer Satzung selbstständig und können beispielsweise Strafgelder verhängen. Wenn irgendein Pöbler auch nur 5 Euro Strafe zahlen müsste, würde er es sich zweimal überlegen!«
Sehr wichtig findet Herr Cakmakoglu auch, dass die »Demokratie von unten«, über die er seine Masterarbeit schrieb, weiter ausgebaut wird. »Es geht nicht an, dass die Entscheidungsträger der EU zwei Tage in irgendeinem Schloss verbringen und etwas beschließen, das dann von oben nach unten umgesetzt werden soll. Ich wünsche mir eine direktere Demokratie! Da gibt es noch viele Defizite. Zum Beispiel erwartet man, dass sich Migranten an verschiedenen Aktivitäten der Gesellschaft beteiligen. Die Beteiligung eines Menschen ist aber abhängig von wechselseitiger Akzeptanz. Solange ich selbst nicht akzeptiert werde, kann ich auch die Gesellschaft nicht als meine akzeptieren. Das heißt, ich bleibe ein Außenstehender.«
Genau dafür setzt er sich ein – auf höchst vielfältige Weise. »Ich arbeite insgesamt in 45 verschiedenen Bereichen«, lacht er, »aber im Prinzip umfasst meine Tätigkeit drei verschiedene Kategorien. Einmal die Bürgerorientierte Öffentlichkeitsarbeit - also Bürgersprechstunden, die Betreuung von Seniorenclubs, sowie demnächst eine ständige Sprechstunde für Flüchtlinge. Zweitens die Mitarbeit in Gremien wie dem Migrationsbeirat, dem Migrationsausschuss und dem Interreligiösem Dialog, dessen Geschäftsstelle mein Büro ist. Und schließlich die Zusammenarbeit mit unseren Partnerstädten.« Letzteres liegt ihm besonders am Herzen. »Ich wünsche mir mehr Städtepartnerschaften mit Staaten, aus denen ein Großteil unserer Migranten stammen – also in erster Linie die Mittelmeer- und die osteuropäischen und arabischen Länder. Partnerstadtverträge verbinden die Menschen miteinander, und aus der gemeinsamen Tätigkeit wachsen Zusammenarbeit und Kooperation. Da gibt es noch viele Städte, deren Wappen ich gern als Partner vor dem Rathaus sehen würde.«
Trotzdem ist Charlottenburg-Wilmersdorf für viele Emigranten ein attraktives Ziel. »Da bei uns die Arbeitslosigkeit nicht so hoch ist wie zum Beispiel in Mitte, werden Zuwanderer hier viel eher eingestellt. In Mitte hingen, als ich dort wegging, rund 20 000 Familien vom Jobcenter ab. Die gesamte Organisationsstruktur ist hier anders. So obliegt in unserem Bezirk der Sprachunterricht den Schulen, so dass wir uns an anderer Stelle engagieren können. Zum Beispiel in Form des Registers (siehe unseren Artikel vom 29.6.2015), oder im Migrationsbeirat, dem viele Betroffene angehören. Sehr positiv sind auch die vielen ›ausländischen Betriebe‹, die von Leuten gegründet wurden, die schon lange in Berlin leben und hier studiert haben. Wenn die alle weggingen, könnte Berlin gar nicht mehr existieren. Solche guten Beispiele sollte man weiter ausbauen.«
Und die aktuelle Flüchtlingslage? »Dass Menschen ihre Heimatländer verlassen und massenweise woanders hingehen, ist ein Problem unserer Zeit. Wir müssen uns fragen: warum? Warum nehmen sie den Tod in Kauf? Wir wissen ja nicht, wie viele schon unterwegs ermordet wurden, ertrunken oder verunglückt sind! Letzten Endes müssen wir international zusammenarbeiten, um die Ursachen zu beseitigen und eine Weltordnung zu schaffen, in der alle Menschen auf dieser Erde leben können. Genügend Platz ist schließlich vorhanden! Aktuell ist die größte Herausforderung natürlich die unmittelbare Ankunft, denn die Kapazitäten sind ja beschränkt – siehe LaGeSo. Dabei kann jede Bürgerin und jeder Bürger ganz konkret Hilfe leisten!«
Wer das tun möchte, wendet sich in unserem Kiez zum Beispiel an »Wilmersdorf hilft« (netzwerkfluechtlingeberlin.wordpress.com) oder an »Willkommen im Westend« (willkommen-im-westend.de). Oder ganz direkt an Herrn Cakmakoglus Büro, Telefonnummer 9029 13329, wo jedes Hilfsangebot dankbar angenommen wird. Übrigens: Am 18. Dezember ist »Internationaler Tag der Migranten«. Dabei wird auch der von Herrn Cakmakoglu 2009 ins Leben gerufene Integrationspreis verliehen. Um 18.00 Uhr ist jeder herzlich zur Feier in den Festsaal des Charlottenburger Rathauses eingeladen!
Sabina Trooger-Benestante
Foto: Johannes Blech